Dass sich Geschichtsdeterminismus, Rationalität mit positivistischen Scheuklappen sowie postmoderne Beliebigkeiten zunehmend verausgabt haben, an Geltung verlieren, ist seit einigen Jahren bereits zu beobachten. Mit dem historischen Prozess als einem polyrhythmischen Gebilde, das von Brüchen geprägt ist und in dem sich das Subjekt – nicht wieder, sondern vielmehr fortgesetzt – als tätiges zeigt (insbesondere auch destruktiv), können sie keinen Umgang finden; Ausgeklammertes fordert sein Recht ein, und erfordert eine Erweiterung der Perspektive, die – folgt man Johan Siebers in seiner Einleitung zum Sonderband der Revue Internationale de Philosophie zu Ernst Bloch – auch die Bloch’sche Hoffnungsphilosophie mit einschließen sollte (vgl. S. 259).
Stehen Welt und Mensch im Prozess, wird überschreitendes Denken und Handeln (in Vermittlung von Theorie und Praxis) zum ethischen Gebot. Siebers verdeutlicht dies in seinem einleitenden Text (der sinnfällig Transgression betitelt ist) mit einer Episode aus der Kindheit Goethes, die auch Eingang in Das Prinzip Hoffnung gefunden hat: An einem stillen Nachmittag sitzt der Junge im Elternhaus am Fenster – einem Ort, der ihm teuer ist, weil er geladen ist mit Sehnsucht nach einem anderen Leben. Goethe wirft Geschirr auf die Straße und erfreut sich am lustigen Klang der zersplitternden Tassen und Teller. Das kindliche Zerstörungswerk ist Übersetzung eines (noch) dumpfen Gefühls in Handlung – und zwar des Andämmerns, Scherben seien dem eigenem Empfinden und der Umwelt weit adäquater als die glatte Oberfläche des unbeschädigten Geschirrs. Die Episode weist auf das Noch-Nicht des Seins; ihm widmen sich, (u.a.) aus kultur-, geschichts- und religionsphilosophischer Perspektive, die im Band versammelten Aufsätze.
Den subjektiven Gehalt des Noch-Nicht-Seins hat Peter Thompson in seinem Beitrag zum Materialismus Blochs (Ernst Bloch and the Dialectics of Contingency) eingefangen mit der Bemerkung, Menschen seien „human becomings rather than human beings“ (S. 298). Als solche sehen sie sich mit einer Wirklichkeit konfrontiert, die weder von Notwendigkeiten noch von Zufällen geprägt wird, stattdessen von Möglichkeiten durchzogen ist, die des Eingriffs des Menschen bedürfen und ihm derart (wenn auch immer nur vorläufig) Antwort geben auf das Dunkel seiner Existenz. Es ist zuvorderst dieses spekulative Moment, welches Blochs Philosophie gemäß Thompson anschlussfähig macht für zeitgenössische Debatten um einen spekulativen Materialismus. Wenn Alain Badiou und Slavoj Žižek Geschichte und Wahrheit als offene Prozesse beschreiben, dem Wirken des Menschen in ihnen (mitsamt seines Scheiterns) eine zentrale Rolle zusprechen und schließlich auch Anschluss suchen an die Religion, verstanden als eine „reality of fiction“ (S. 298), so ist all dies bei Bloch vorweggenommen. An seiner eigenen Philosophie ist folglich noch Unabgegoltenes für die Gegenwart zu finden.
Dass ein erinnernder Zugriff auf Vergangenes für Bloch immerzu einer bewussten Selektion unterliegt, betont Francesca Vidal in ihrem Beitrag (Was Ernst Bloch zum Phänomen des Vergessens sagt). Erinnern bedarf des Vergessens als Voraussetzung wie als Modus; etwas zu vergessen, ist nicht Gegensatz zum Erinnern, sondern zeigt einen Mangel an Treue gegenüber dem Unabgegoltenen der Vergangenheit (vgl. S. 286). Es ist hier nicht nur das ethische Moment erfasst – jenes Unabgegoltene ist „fortverpflichtend, also Verpflichtung zur Fortbildung der Dinge“ (S. 283) –, sondern auch die Mahnung vorgebracht, die Auflösung dialektischer Widersprüche nicht plump als Verschwinden des Sich-Widersprechenden zu verstehen. Prophylaxe gegen eine Vulgarisierung von Dialektik betreibt auch Agata Bielik-Robson (Dreams of Matter: Ernst Bloch on Religion as Organized Fantasy): So wie das Erinnern durch den Prozess des Vergessens ‚hindurchmuss‘, so ist der Atheismus Blochs nur mitsamt des transzendentalen Umwegs über den Demiurgen zu begreifen: „The diagnosis of God’s non-existence can only be stated by an atheist who is capable of the full appropriation of the history of successive exoduses, from God to Man“ (S. 345). Auch macht Bielik-Robson darauf aufmerksam, dass Blochs Treue gegenüber den religiösen Erlösungsmotiven zugleich Treue gegenüber dem Religionsverständnis Marx’ demonstriert: Religion ist eben nicht nur der Seufzer der bedrängten Kreatur und als solcher Ausdruck elender Verhältnisse, sondern zugleich auch Protest gegen diese Verhältnisse (vgl. S. 333).
Der Marxist Bloch, der über die Realdialektik der Hoffnung erst Stabilität und Wucht verleihen konnte, hat bei Bielik-Robson seinen prominentesten Auftritt im Sammelband. In vielen Beiträgen hingegen liegt der Fokus auf dem jungen Bloch, als dem expressionistischen Beschwörer der Utopie (auch dies ließe sich als biographischer Umweg interpretieren, der später seine dialektische Aufhebung erfuhr). Wichtig für Bloch war der Impuls Nietzsche, den Lucien Pelletier als eine der Quellen für die Geschichtsphilosophie Blochs herausstellt (Les sources de la philosophie de l’histoire d‘Ernst Bloch). Wie auch bei Rickert, Lask, Lamprecht und Simmel, als den weiteren von Pelletier untersuchten Quellen, ist die Nietzsche-Rezeption Blochs selektiv: Die emphatische Betonung des Lebens nahm er auf, verwarf jedoch die Überzeugung von einer ewigen Wiederkehr des Gleichen (vgl. S. 264). Der Gedanke, Geschichte ließe sich in Gesetzen erfassen, lag Bloch fern; vielmehr ging es ihm um eine Vermittlung von Geschichtslauf und Individualismus. Hinsichtlich dieser Absicht erkennt Pelletier eine Kontinuität, die sich von Blochs Dissertation bis zu Erbschaft dieser Zeit erstreckt (vgl. S. 276).
Dauernde Verbundenheit mit ersten Einflüssen, wiederum mit Nietzsche, macht Cat Moir auch in Blochs Materialismus aus (The Birth of Materialism out of the Spirit of Expressionism: Nietzsche and Bloch’s Philosophy of Language). Gleichwohl bleibt es auch in diesem Fall bei einem Impuls, der weit hinter anderen Einwirkungen zurücksteht, etwa denen der Aristotelischen Linken; am Schluss von Moirs Aufsatz ist folgerichtig die Einsicht formuliert, dass Blochs Metaphysik, samt der in ihr enthaltenen Sprachphilosophie, „was underpinned by an epistemology that was far more Hegelian than Nietzsche’s radical post-Kantian perspectivism“ (S. 330). Der initiale Einfluss des aktivistischen Denkens Nietzsches, was diesen zum (von Bloch selber ausgezeichneten) Vordenker des Noch-Nicht-Bewussten macht, erhält sich dennoch – und zwar vor allem darin, in Sprache und philosophischen Kategorien (auch) ein subjektiv-schöpferisches Moment zu erkennen. In dessen Namen freilich opferte Nietzsche, wie Moir überzeugend darlegt, das objektiv-widerspiegelnde Moment vollkommen (vgl. S. 309 f. und 324 ff.).
Finden sich sowohl bei Moir (vgl. S. 320) als auch bei Thompson (vgl. S. 295) bereits Hinweise darauf, dass der Weltprozess sich nicht nur in Sprache geltend macht, sondern auch von ihr vorangetrieben wird, führt Johan Siebers (Philosophy as Rhetoric) dieser Gedanke zu der These, in Blochs Werk werde Philosophie zu Rhetorik und Rhetorik zu Philosophie (vgl. S. 365). Wenn Rhetorik – einer Definition Joachim Knapes folgend – als kommunikative Befreiung aus sozialer Determination verstanden wird, so macht Siebers hier zu Recht einen utopischen Zug aus. Welt und Mensch sind einander wechselweise Frage und Antwort im Versuch einer Erhellung des Dunkels des gelebten Augenblicks. Weiterhin stützen die von Bloch ausgemachten Realchiffren innerhalb des Weltprozesses diese These – die Realallegorie als Kategorie des Weges und das Realsymbol als Kategorie des Ziels. Fraglich bleibt lediglich, ob auf Grundlage eines derartigen Kurzschließens von Rhetorik und Hoffnungsphilosophie eine Umbenennung der Bloch’schen Ontologie als eine konjunktivische (vgl. S. 361) sinnvoll ist. Wenn Bloch im Prinzip Hoffnung notiert, dass auch das Subjekt in der Welt Welt sei, so gilt dies analog natürlich auch für die Sprache; sie steht selber im Prozess und wirkt sich auf ihn aus. Überhaupt, wollte man dem an Schwächen wahrlich armen Band einen Mangel attestieren, so ließe sich bei mitunter überbordender, in Redundanz mündender Kreativität hinsichtlich der Namensgebung der Bloch’schen Metaphysik ansetzen. Denn egal ob „Metaphysics of Contingency“ (S. 292, Thompson), „fantastical materialism“ (S. 339, Bielik-Robson) oder eben „subjunctive“ ontology (S. 361, Siebers), gemeint ist stets dasselbe – Ontologie des Noch-Nicht-Seins.
Alles in allem gelingt es dem Sammelband jedoch sowohl in historischer Perspektive Einflüsse auf die Philosophie Blochs freizulegen als auch für die Gegenwart Anschlussmöglichkeiten aufzuzeigen. Zudem bieten viele der Beiträge, insbesondere die von Thompson und Bielik-Robson (zu Materialismus respektive Religionsphilosophie) in ihrem überblickenden und zusammenfassenden Charakter auch einen Einstieg in die Bloch’sche Philosophie. Dies dürfte die von Johan Siebers in der Einleitung geäußerte Hoffnung, mit dem Band auch Leser für Bloch gewinnen zu können, die zuvor noch keines seiner Bücher in die Hand genommen haben (vgl. S. 260), dem objektiv-real Möglichen ein gutes Stück näher bringen.
Johan Siebers (Hg.): Revue Internationale de Philosophie 289 (2019) (ISBN 9782930560403).
Manuel Theophil