Tagungsbericht: Aufrechter Gang im Sturm

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Tagungsbericht: Aufrechter Gang im Sturm

Feb 22, 2016 | Events

Blochs Heimatbegriff findet im Rahmen der Kritischen Theorie unerwartete Resonanz

Bei einer Tagung zur „Aktualität der verschiedenen Varianten kritischer Gesellschaftsanalyse“ konnte man es durchaus merkwürdig finden, dass ihr Titel, „Der aufrechte Gang im windschiefen Kapitalismus“, keiner Spielart der kritischen Theorie entsprang, sondern einem (abgewandelten) Zitat von Ernst Bloch. Wir leben in einer Zeit, schien dies zu bedeuten, wo man wieder zu Metaphern greifen muss. Elmar Altvater, knapp 80jähriger Gründer der Zeitschrift „Probleme des Klassenkampfs“ und eine der drei Ikonen im Referentenfeld, zeigte das an der Frankfurter Europäischen Zentralbank, die mit ihrer windschiefen Architektur bildhaft macht, was Benjamin in seiner Interpretation des Angelus Novus festgehalten hat: Der Kapitalismus ist zum planetarischen Sturm geworden. Mit seiner Resourcenökonomie ohne Ratio treibt er eine höllische Maschine mit immer größerer Geschwindigkeit vor sich her.

Suggestive Fiktion

Dass die Gesellschaft „zweite Natur“ sei, sei nämlich nur „hypostasiert“ (Ulrich Ruschig). Sie ist wesentlich schwerer zu beherrschen. Der Kapitalismus wird durch die „gesellschaftliche Aneignung“ der Produktionsmittel, die einmal das Absterben des Staates herbeiführen sollte, nur zementiert und nimmt die gleichschaltenden Strukturmerkmale des autoritären Staats an (Horkheimer). Das Gesellschaftliche ist somit, über sich hinausgetrieben, zum globalen Problem geworden. Darauf muss sich die Gesellschaftskritik heute einstellen. „Irrtümer haben ihren Wert“, ermuntert Altvater die jüngere Generation, sich auch auf abseitigen Pfaden daran abzuarbeiten – wankende Gestalten im Sturm.

Damit war einer breiten Phalanx von neuen und neu aufgenommenen Ansätzen die Tür geöffnet, zu der eine Reihe von ordnenden und einordnenden Beiträgen letztlich wie ein bloßes Vorspiel wirkte. Als systematisierender Chronist der älteren und neueren Generation verglich Wolfgang Bonß, Mitarbeiter von Habermas zu Starnberger Zeiten, die „Generationen“ der Kritischen Theorie nach Bezugspunkten, Gegenständen und Adressaten der Theorie, wobei er den üblichen Kreis (von Horkheimer über Adorno und Marcuse zu Habermas und Honneth) um einen ungewohnten Protagonisten, nämlich Ulrich Beck, erweiterte. Es deutete sich dabei an, was der Adorno- und Habermas-Biograph Stefan Müller-Doohm die „suggestive Fiktion eines gemeinsamen Zugangs“ nannte.

Rettende Kritik

An Habermas zeige sich, dass dessen Explikation von Sinn sehr viel mehr mit Gadamer als mit der frühen Kritischen Theorie der 30er Jahre zu tun habe; Habermas Themenkomplexe Öffentlichkeit und Sprache, Demokratie und Rechtsstaat und die in der Moderne evolutionär entstandene Trennung von System und Lebenswelt stünden in krassem Kontrast. Aus dem Kapitalismus gebe es nach Habermas „kein Ausbrechen“ mehr. Statt auf bewusstmachende setze er auf rettende Kritik, die dem Eigensinn des zu Unrecht Kolonialisierten gelte. Anstatt die Entwicklung der Frankfurter Schule als Lernprozess darzustellen, erschien sie hier als ein Nebeneinander unterschiedlicher Theorieansätze, mit ebenso unterschiedlichen Begründungsformen, vereint nur im unscharf umrissenen kritisch rekonstruierenden Anspruch, auf Gesellschaftsveränderung zu setzen, wie etwa Georg Lohmann an der Frage universalisierbarer Gerechtigkeitsnormen exemplifizierte.

Begründung und Leiden

Der domestizierte Streit um verschiedene Begründungsansätze in der Kritischen Theorie, der von der Generation der über 60-Jährigen ausgetragen wurde, vereinigte diese in der Ablehnung eines lodernden Vetos. Fabian Freyenhagen, ein junger Vertreter aus England, legte es ein. Kritik könne „nur ohne Begründungsprogramm wirklich kritisch sein“. Begründungsprogramme behaupteten stets, es gebe Wichtigeres als das Begründete selbst. Das aber mache für das wirkliche Leiden taub. Auch Thesen zu einer kapitalistisch verdinglichten Ratio (Hans E. Schiller), deren objektive Logik sich bis in die rechten Auswüchse unserer Tage erstreckten, stießen auf Kritik. Erst als Rüdiger Bittner als Advocatus diaboli jede Form von auf das Ganze der Gesellschaft zielender Kritik verwarf, („Was man nicht verändern kann, soll man auch nicht kritisieren“), rückten sehr diverse Positionen wieder näher zusammen.

Ein Ontologe der Gegenwart

Die zweite Ikone der Tagung war Oskar Negt, dem nach seinem Beitrag eine altersmilde Wende zum Kantianismus nachgesagt wurde. Im selben Jahr wie Habermas weichenstellende Theorie des kommunikativen Handelns (und vergleichsweise wenig beachtet) war „Geschichte und Eigensinn“ (1981) erschienen, Negts zusammen mit Alexander Kluge verfasstes, ebenso umfangreiches Opus. Dessen „ideosynkratische Gestalt“, die nur „mit Mühe als systematische Darstellung zu lesen“ sei, weckt neuerdings wieder Sympathien. Johann Hartle (Amsterdam) sieht darin die verpasste Möglichkeit einer anderen kritischen Theorie, mit „proletarischer Wirklichkeit“ als Schlüsselbegriff. Im englischen Sprachraum ist das Werk 2014 in Übersetzung erschienen und hat durch eine Rezension in der Zeitschrift radical philosophy unerwarteten Zuspruch erfahren. Bei Hartle wird Negt zu einem „Ontologen der Gegenwart“, systematisch ambitioniert wie Hardt/Negri in Empire, historisch verankert wie Jacques Rancière, seine Theorie bewegungsaffin und als „lebendiges Gefüge kooperativer Autonomien“ „anschlussfähig“.

Die Welt singt nicht mehr

Schließlich kam der Begriff Entfremdung in diesem Kontext zur Neubewertung. Lange war er aus dem Repertoire kritischer Gesellschaftsanalyse verschwunden. Erst die Studien der abwesenden Rahel Jaeggi, deren Name aber häufig fiel, hatte in den letzten Jahren den Begriff – im Sinne von Indifferenz und Entzweiung, Machtlosigkeit und Beziehungslosigkeit gegenüber einer als gleichgültig und fremd erfahrenen Welt –– wieder salonfähig gemacht. Christoph Henning nannte ihn die „ethische Folie“ des Marxismus. Hartmut Rosa, der mit seinem Buch über Beschleunigung und Entfremdung (2013) ebenfalls zur Revitalisierung des Entfremdungsbegriffs beigetragen hatte (eine dritte Ikone, so kultig, dass sie für die Veranstalter Anlass für zusätzliche feuerpolizeiliche Vorkehrungen war) gab Einblicke in sein neues, im März erscheinendes monumentales Werk, in dem er als Antwort auf Entfremdung die Zentralkategorie der „Resonanz“ entwickelt. Dort erzählt er die Geschichte der Kritischen Theorie auf andere Weise: Mit der kapitalistischen Entwicklung wurde das Weltverhältnis entzaubert. Durkheim diagnostizierte Anomie, Simmel Blasiertheit, Camus Absurdität, Jaeggi eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“ des Subjekts zur Welt: „Die Welt singt nicht mehr“.

Was jedem aus der Kindheit scheint

Sie wird zur „schweigenden“ Welt: Marx analysiert eine vierfache Entfremdung, Lukács Verdinglichung, Benjamin das Scheitern der „Anverwandlung“, Adorno „bürgerliche Kälte“, zu der nun, als Utopie, die „entgegenkommende“ Welt aufscheint: das „Charisma“ Max Webers, die „Aura“ Benjamins, das „Mimetische“ Adornos, Fromms „Liebe“, „Eros“ bei Marcuse, „Verständigung“ bei Habermas, „Anerkennung“ bei Honneth. Rosa versteht unter Resonanz ein heilendes Sich-Aufschaukeln im Abstand, eine Brücke zwischen Enfremdung und ihrem Anderen, eine Gegenbewegung von A-fizierung und E-motion. Mehr als Aura, Mimesis oder Eros, mehr als die Chiffren, die in der Kritischen Theorie darauf verweisen, steht für „Resonanz“, gleichsam paradigmatisch, Blochs Begriff der Heimat: als das, „was jedem aus der Kindheit entgegen scheint“, wie Rosa das, was „allen in die Kindheit scheint“ (Bloch), umformulierte. Heimat, das jeder Beziehungslosigkeit Entgegengesetzte, in der aber noch niemand war, ist die dialektische Struktur, die einer Resonanz als dem Schwingen zwischen Herkunft und Utopie einen Raum gibt – so soll, der Beschleunigung Paroli bietend, ein antizipiertes Innehalten eröffnet werden.

Eine Zuhörerin fragte, ob ein solches Betonen des Emotionalen, Auratischen, Pathetischen denn so unproblematisch sei, wo doch bekanntlich die Ästhetik der Nazis damit voll war. Diese Frage sei ihm auch gekommen, meinte Rosa. Hier könnte die „kritische Theorie spätmoderner Zeitlichkeit“, wie Rosa seine die Entfremdung auffangende Resonanzlehre nennt, dem Unabgegoltenen im Ungleichzeitigen, dem Utopischen, das Bloch untrennbar vom Entfremdungverhältnis analysierte, ein zeitgemäßes Wirkungsfeld eröffnen.

Ulrich Müller-Schöll

Der aufrechte Gang im windschiefen Kapitalismus. Internationale Tagung des Kollegs Friedrich Nietzsche vom 7. bis 10. Januar 2016. Klassik Stiftung Weimar