„Die Welt als Frage“

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„Die Welt als Frage“

Sep 16, 2015 | Archiviert

Die Welt als Frage, das heißt selber als Experiment

Wir fangen wieder mit dem Bin an, das sich so dunkel ist. Das darin gärt, das sich unsichtig ist vor lauter Nähe und aus ihr als dem pur Unmittelbaren heraus will. Das so lauter Frage ist und überall zunächst nach sich, nach seinem sich fassenden Daß, das an sich völlig ungefaßt ist. (…) Betrifft den Nullpunkt in allem, das Nicht, das es nicht bei sich aushält, den Hunger, das Dunkel des gerade gelebten Augenblicks im Jetzt und Hier alles Erscheinenden. Gewiß, das sind viele und zugleich vage Worte, um das mit dem Nullpunkt Gemeinte zu bedeuten, welches aber selber vage, weithin unvermittelt ist.

Denn das Rätsel steckt ja nicht oben, sondern vielmehr gerade in der Nähe und die Frage, die es darstellt, hat  noch nirgends eine adäquat-präzisierende Antwort
erhalten, so daß das Vage dem noch allzu Unmittelbaren gegenüber der präziseste, exaktest einschlagende, der auch sachlich genaueste Ergriff ist, um zu fassen. Und doch wäre die Nähe der Ort, wo Deutlichkeit am wichtigsten vorkäme, wenn er aus dem Dunkel herausgetreten wäre. Das noch so sehr Geheime des Nullpunkts als Alpha hat hierbei nicht das Mindeste mit dem üblichen Topos eines geheimen Mysterischen gemein; ganz im Gegenteil, es ist ja gerade die Nähe, das Allernächste des Unmittelbaren; welches das Rätsel hier ausmacht, genau als eines der genetischen Immanenz und keineswegs der hypostasierten Transzendenz. Woraus sich ergibt, daß gerade das Eingedenken des in der nächsten Nähe Verhüllten nicht, noch nicht in ausgemacht klaren Begriffen vor sich gehen kann und ebensowenig in bereits deutlichen. Klarheit hieße nämlich empirisch bestimmbare Verschiedenheit von anderem, so jedoch, daß etwas nicht in sich selber durchsichtig wird. Deutlichkeit hinwiederum wäre erreicht, wenn sich etwas nicht nur von anderem abhebt, sondern in sich selbst entwickelt  unmittelbar einleuchtet. (…) Item: Widerspruch und Spannung zwischen erforschtem Sosein der Erscheinungen und der Unherausgebrachtheit des immer noch verborgenen Wesens bleiben; die Natur trägt sie nur auf eigene Art in sich. Also ganz anders als positivistisch verstanden gehören Experiment – wie Modellbeschaffenheit in das noch so sehr laborierende Laboratorium possibilis salutis – in den schwierigen Weg der Substanz. (…)
Daher ist das wichtigste Kennzeichen des echt durchgehaltenen Rätselgewissens im Staunen, Sichverwundern und seiner Urfrage schlechthin, sich gerade am Unscheinbaren entzünden zu können und in Schwebe zu halten. An diesem noch nicht einrangierten, eingemeindeten nur scheinbar völlig vereinzelter, gar abwegiger Art, allein schon aufgehend an der Frage des Mädchens in Hamsuns Pan: Denken Sie nur, es regnet. Nicht aber als wäre der kognitive Einschlag an und im Kleinsten eines Nebenbei auf dieses beschränkt, im Gegenteil. Überall dort, wo im Staunen der Lichtblick einer Ankunft und eben nicht einer bekannten, gar abgemachten geschieht, kann umgekehrt gerade das Fortissimo, wie es zum Einschlag schließlich gehört, der letzten Tiefe des Fragens, der letzten Tiefe des Staunens, der Frage des Fragens also unabgelenkt entsprechen. Kann das im Aufblitzen Erhabene senkrecht in den Augenblick als hochgelösten einschlagen, wie das Trompetensignal der Rettung im Fidelio, das ein ungeheures nunc der Lösung ist, genau in der Jähe seines Novum. Mythisch gedacht ist das auch in der Apokalypse, wo die Ankunft des letzten Augenblicks mit der Dimension des Ungeheuren an sich, das All selber unendlich überbietend, vorscheint, ganz ohne alles übersehen Unscheinbare, konträr zu allem noch so geladen Kleinen. Und doch tritt auch hier, in diesem gewaltigsten Spektakulum, in dem Aufbrechenden selber konzentriert Kleines als Omega wieder hervor; zusammengelegt tritt hervor das neue Jerusalem als hineinspringendes Antidotum zur Kosmosunendlichkeit insgesamt als wirklich zentriertes Universum, als goldraumhaftes Alles, nicht inflationäres All. All diese nicht zu vorhandenen Lösungsformen hin zurechtkonstruierten, eschatologischen Lösungs-Deutungen noch mythischer, also auf die Füße zu stellender Art pointieren, finalisieren nur die Frage der Welt nach sich selber, letzthin eben die Weltfrage nach sich selber und setzen sie als durchgehende noch anhaltende voraus. (…)   Die Substanz der Welt als Selbstfrage der Welt nach sich ist also noch unvorhanden und kann logisch bisher nur formuliert werden in dem „S ist noch nicht P“.Darin ist ausgedrückt, daß der substantielle Tragekern der Welt im Zeitmodus der objektiv realen Möglichkeit ist. Wenn aber der Tragekern der Welt das noch unherausgebrachte Daß ist, dann gibt sich das Dunkel der Zukunft als das suo modo verlängerte Dunkel des gerade gelebten Augenblicks. Ebenso jedoch gibt Zukunft der noch nicht erfüllten objektiv-realen Möglichkeit den Topos der Offenheit, worin das Dunkel umschlägt zur schöpferischen Unfertigkeit, Unverstelltheit des Novum, als noch dirigierbares Ultimatum des Prozesses. Der zwar nicht wäre, wenn es nicht etwas gäbe, das so nicht sein sollte, der aber immer noch die menschliche Hoffnung als exterritorial  zum Kern des noch nicht Erschienenen, also auch zum individuellen Umsonst des Tods, zum historisch-kosmischen Umsonst der Entropie garantiert. (…) Denn was noch nicht erschienen ist, kann nicht so vergehen wie Erschienenes; auf dieses zum unerschienenen Kern Exterritoriale bezieht sich der Satz: non omnis confundar auch und gerade kosmologisch, mit fortgeltender Latenz im Kern. So steht Substanz als letzthin immanentester Resultatinhalt noch erst in objektiv-realer Möglichkeit, die allerdings auch Vereitelbarkeit miteinschließt. Dann erschiene am Ende des Prozesses statt des aufgedeckten Angesichts von uns und allem ein gesichtsloses Nihil höchstens als Abfallhaufen der Vereitelung, als negatives Ultimatum des Umsonst von uns und allem. Der Prozeß auf die Endsubstanz hin hat in seiner noch so schwierigen menschlichen Intension, auf die noch nicht gelungene, doch ebenso noch nicht vereitelte objektive Tendenz den Seinsstand von Aurora im Kontrazug des Aufgangs. In ihm steht als Perspektive der Perspektiven fest: Die Welt ist eine einzige noch unablässige Frage nach ihrem herauszuschaffenden Sinn, worin allein der Hunger zu stellen ist, mit offenem Plus und noch ausstehendem Ultimum in objektiv-realer Möglichkeit. Darum geschieht die große Drehung aus dem Dunkel des Unmittelbaren heraus, die Weltprozeß heißt: Mit tätiger Antizipation im Subjekt gerichtet auf Glück, in der Sozietät auf klassenlose Solidarität, id est auf Freiheit und Würde, im Objekt auf Heimat.

Aus: Philosophie in Selbstdarstellungen I

Mit Beiträgen von E. Bloch – J.M. Bochenski – A. Dempf – H. Glockner – H.-E. Hengstenberg – P. Jordan – W. Marx – J. Pieper – H. Plessner. Hamburg 1975.